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Woran erkennt man gute Zertifikate?

Einleitung

Seit ca. fünfzehn Jahren lässt sich in der IT ein neuer Trend beobachten: Wir dürfen nicht mehr nur lebenslang lernen, sondern wir können Zerti­fikate dafür erwerben, dass wir unser Wissen erweitert haben. Zwei Worte in diesem letzten Satz sollten inter­es­sierte Leser:innen aufhorchen lassen: „erwerben“ und „Wissen“.

Für ein Zerti­fikat muss Geld bezahlt werden! Deshalb wollen wir uns als erstes die Frage stellen, ob man ein Zerti­fikat kaufen kann, ohne dass man sein Wissen substan­ziell erweitert hat. Wie sind die Zerti­fi­zie­rungs­ver­fahren organi­siert, um einen solchen Missbrauch zu verhindern?

Als zweites wenden wir uns der Frage zu, was Zerti­fikate prüfen bzw. prüfen können: theore­ti­sches Wissen – also alles, was man aus Büchern lernen kann – oder echte praktische Erfahrung, die über die Jahre wächst und sich verändert. Sollten Zerti­fikate vielleicht sogar ein Verfalls­datum haben? Gibt es Zerti­fikate, die prüfen, ob ich mein einmal zerti­fi­ziertes Wissen und meine Erfahrung beibe­halte oder erweitere? Mit welchen Versprechen werden Zerti­fikate beworben und was ist von diesen Versprechen zu halten?

 

Zerti­fi­zie­rungs­ver­fahren

Das Angebot an Zerti­fi­katen ist vielfältig, trotzdem liegt den meisten Zerti­fi­katen und Zerti­fi­zie­rungs­ver­fahren ein ähnlicher Prozess mit einigen vergleich­baren Varianten zugrunde. In Abbildung 1 ist das grund­sätz­liche Muster für Zerti­fi­zie­rungs­ver­fahren dargestellt.

Will ein Schulungs­an­bieter zu einem Zerti­fikat eine Schulung anbieten, so muss er zuerst überprüfen, ob er in der Lage ist, die im Lehrplan enthal­tenen Themen zu vermitteln (Schritt 1 in Abbildung 1). Ist dies der Fall, so muss sich der Schulungs­an­bieter von dem für dieses Zerti­fikat zustän­digen Board lizen­sieren lassen (Schritt 2). Mit dem entspre­chenden Lizenz­vertrag stellt das Board sicher, dass der Schulungs­an­bieter den Lehrplan des Boards umsetzt und seine Schulungs­un­ter­lagen ggf. durch das Board quali­täts­si­chern lässt. Ist man als zukünf­tiger Prüfling auf der Suche nach einem Schulungs­an­bieter für ein Zerti­fikat, so sollte man stets kontrol­lieren, ob der Schulungs­an­bieter die entspre­chende Lizenz tatsächlich besitzt.

Hat der Prüfling den für sich passenden Schulungs­an­bieter gefunden, so meldet er sich dort für die entspre­chende Schulung an und entrichtet die Schulungs­gebühr (Schritt 3+4). Möchte der Prüfling die Prüfung direkt im Anschluss an die Schulung machen, so meldet ihn der Schulungs­an­bieter kurz vor oder auch während der Schulung bei einer Zerti­fi­zie­rungs­stelle für die Prüfung an (Schritt 5). Zerti­fi­zie­rungs­stellen werden vom für das Zerti­fikat zustän­digen Board für die Prüfung autori­siert. Der Pool von Fragen, aus dem die Zerti­fi­zie­rungs­stelle jeweils die Prüfungs­bögen zusam­men­stellt, wird von dem gleichen unabhän­gigen Board ausge­ar­beitet, das auch den Lehrplan für die Schulung festgelegt hat.

Die meisten Schulungen sind so organi­siert, dass im Anschluss an eine mehrtägige Schulung (Schritt 6) direkt die Prüfung abgelegt werden kann. Dazu wird von der Zerti­fi­zie­rungs­stelle eine unabhängige fachfremde Prüferin oder ein unabhän­giger fachfremder Prüfer bestellt, die oder der die Prüfung vor Ort durch­führt. Die Prüfung wird von einer fachfremden Prüferin bzw. einem fachfremden Prüfer abgenommen, damit auf jeden Fall verhindert wird, dass den Prüflingen bei der Prüfung geholfen werden kann.

Die Zerti­fi­zie­rungs­stelle erhält für diese Dienst­leistung vom Prüfling eine Prüfungs­gebühr (Schritt 7). Der oder die Prüfer:in lässt die Prüflinge einen Multiple-Choice-Test ausfüllen (Schritt 9) – entweder digital oder in Papierform. Die Tests in Papierform hat er bzw. sie von der zustän­digen Zerti­fi­zie­rungs­stelle bekommen (Schritt 8). Im Anschluss an die Prüfung werden die digitalen Tests direkt von der Zerti­fi­zie­rungs­stelle ausge­wertet (Schritt 11) und das Ergebnis bekannt gegeben (Schritt 12). Falls Prüfungs­bögen in Papierform verwendet werden, schickt der oder die Prüfer:in die ausge­füllten Prüfungs­bögen zurück an die Zerti­fi­zie­rungs­stelle (Schritt 10). Dort werden die Antworten ausge­wertet und die Anzahl der richtigen Antworten festge­stellt (Schritt 11). Im Anschluss wird der Prüfling per E‑Mail über das Ergebnis infor­miert. Hat der Prüfling genug richtige Antworten gegeben, erhält er sein Zerti­fikat (Schritt 13).

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Abbildung 1: Zerti­fi­zie­rungs­ver­fahren aus Sicht des Prüflings [DST]

Dieser auf den ersten Blick für den Prüfling relativ kompli­zierte Prozess wurde geschaffen, um der in der Einleitung präsen­tierten Gefahr entge­gen­zu­wirken, dass man Zerti­fikate einfach kaufen kann.

Gute Zerti­fikate zeichnen sich dadurch aus, dass die Definition der Inhalte, die Schulung und die Prüfung von verschie­denen vonein­ander unabhän­gigen Insti­tu­tionen verant­wortet werden (s. Abbildung 2).

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Abbildung 2: Aufga­ben­teilung [DST]

Zu diesem vollum­fäng­lichen Zerti­fi­zie­rungs­ver­fahren gibt es verschiedene Varianten für einzelne Teilprozesse:

  1. Vorbe­reitung ohne Schulung (s. Abbildung 3)
  2. Remote-Prüfung (s. Abbildung 4)
  3. Öffent­liche Prüfung
  4. Prüfung im Testcenter

Will ein Prüfling ohne eine Vorbe­reitung durch einen Schulungs­an­bieter die Prüfung für ein Zerti­fikat ablegen, so ist die Prüfungs­gebühr bei den meisten Zerti­fi­katen etwas höher (Schritt 5 in Abbildung 3). Zu den meisten Zerti­fi­katen werden Bücher angeboten, die das Selbst­studium erleichtern (Schritt 6 in Abbildung 3).

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Abbildung 3: Vorbe­reitung ohne Schulung [DST]

Für die Prüfung hat der Prüfling die drei oben aufge­führten Alternativen.

Seit der Corona­pan­demie werden viele Schulungen remote und damit ortsun­ab­hängig angeboten, sodass eine Remote-Prüfung der logische Schritt ist. Deshalb wird inzwi­schen bei vielen Zerti­fi­katen eine Remote-Prüfung angeboten. Die Prüfung wird vom Prüfling remote durch­ge­führt und von einem oder einer Prüfer:in überwacht, der bzw. die sich auf den Rechner des Prüflings aufschaltet und ihn mit der Kamera beobachtet. So entfällt für alle Betei­ligten die Notwen­digkeit zu reisen. Verfahren, bei denen die Online-Prüfung ohne Aufsicht abgelegt werden kann, laden im Gegensatz dazu zum Missbrauch ein.

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Abbildung 4: Remote-Prüfung [DST]

Außerdem gibt es bei einigen Zerti­fi­zie­rungs­ver­fahren die Möglichkeit, dass der Prüfling eine öffent­liche Prüfung oder ein Testcenter besucht, wo er seine Prüfung unter persön­licher Aufsicht ablegt.

Für unsere erste Frage stellen wir also zusam­men­fassend fest: Bei Verfahren, die dem hier vorge­stellten Ablauf mit einer Trennung der Verant­wort­lich­keiten folgen und bei denen die Prüfung unter Aufsicht abgelegt wird, ist sicher­ge­stellt, dass man das Zerti­fikat nicht kaufen kann.

 

Wissen oder Erfahrung?

Was ist aber mit dem zweiten Thema? Was überprüfen Zerti­fikate? Theore­ti­sches Wissen oder praktische Erfahrung? Nun, diese Frage hängt tatsächlich von der Art des Zerti­fikats ab!

Alle Zerti­fikate, die lediglich aus einem Multiple-Choice-Test bestehen, fragen nur theore­ti­sches Wissen ab. Natürlich versuchen die Boards Prüfungs­fragen zu ersinnen, die nur mit prakti­scher Erfahrung zu beant­worten sind, aber im Multiple-Choice-Schema ist das sehr schwierig.

Die Zerti­fikate, die in diese Kategorie fallen, haben in der Regel den Zusatz „Foundation Level“. Der Foundation Level wird von den Anbietern ausdrücklich als Basis-Zerti­fikat beworben [FGG10]. Der Prüfling beherrscht anschließend die Grund­be­griffe eines Gebiets. Diese Grund­be­griffe kann man lernen und sich ihren Sinn erklären lassen. Nach der Prüfung bzw. der Schulung spricht der Prüfling die Sprache dieses Gebiets.

Die Zerti­fikate, die auf dem „Foundation Level“ aufbauen, gehen in der Regel über einen reinen Multiple-Choice-Test hinaus. Diese Zerti­fikate tragen oft den Zusatz „Advanced Level“, manchmal auch „Profes­sional“ oder „Master“. Für diese weiter­füh­renden Zerti­fikate muss man auf irgendeine Weise praktische Erfahrung nachweisen.

Bei einigen Zerti­fi­katen muss man Testi­mo­nials von Arbeit­gebern für Projekte vorweisen, die zum Thema des Zerti­fikats passen: z. B. 18 Monate Testauf­gaben in Projekten oder 18 Monate Projekt­leitung bzw. Teilprojektleitung.

Bei einigen anderen weiter­füh­renden Zerti­fi­katen gehört zur Prüfungs­leistung zusätzlich zum Multiple-Choice-Test eine mündliche Prüfung. In manchen Fällen wird außerdem keine Schulung im herkömm­lichen Sinne abgehalten, sondern es wird versucht, eine Art Projekt­si­tuation zu simulieren, in der die Teilneh­menden im jewei­ligen Gebiet zusammenarbeiten.

Dann haben einige Zerti­fikate noch die unange­nehme Eigen­schaft, dass sie regel­mäßig alle drei oder fünf Jahre erneuert werden müssen. Entweder muss die Prüfung erneut durch­ge­führt werden oder die Prüflinge müssen Credit Points sammeln, die bestimmte Aktivi­täten im zerti­fi­zierten Bereich nachweisen: Konfe­renz­be­suche, Vorträge, Vorle­sungen, Artikel­ver­öf­fent­li­chungen. Auf diese Weise wird sicher­ge­stellt, dass die Erfahrung der Prüflinge nicht veraltet.

Was die Frage nach dem Wissen und den Erfah­rungen angeht, so halten wir fest: das Basis­zer­ti­fikat, der Foundation Level, entspricht einer theore­ti­schen Führer­schein­prüfung. Die Theorie, also die Begriffs­bildung und die Regeln, werden beherrscht, praktische Erfahrung liegt aber nicht vor. Insofern sollte man die Basis­zer­ti­fikate immer als das betrachten, was sie sind: Theore­ti­sches Wissen, das man erwerben muss, um die Aufbau­zer­ti­fikate ablegen zu können.

 

Fazit

Falls Sie nach einer Weiter­bildung mit Zerti­fikat suchen, so planen Sie je nach Ihrem aktuellen Wissens­stand ein Basis­zer­ti­fikat und entspre­chende Aufbau­zer­ti­fikate ein. Nur die Aufbau­zer­ti­fikate sind wirklich in der Lage, Ihnen praktische Erfahrung zu attestieren.

Darüber hinaus sollten Sie auf eine Prüfung mit Aufsicht bestehen und nur Zerti­fikate wählen, bei denen die Verant­wortung für Inhalte, Schulung und Prüfung klar getrennt ist.

Außerdem sollten Sie sich bei der Recherche nach dem passenden Schulungs­an­bieter nicht von hübschen Broschüren und Äußer­lich­keiten täuschen lassen. Versuchen Sie sich ein Bild zu machen, ob die Ihnen angebo­tenen Schulungs­leiter den Hauptteil Ihrer Zeit in Projekten in der Praxis verbringen – also ihr Geld nur gelegentlich mit Schulungen verdienen. Haben Sie einen solchen Schulungs­an­bieter gefunden, so ist die Wahrschein­lichkeit sehr viel größer, dass Sie nicht nur mit einem Zerti­fikat, sondern tatsächlich mit praxis­taug­lichen Ratschlägen aus der Schulung zurückkehren.

Wir hoffen, dass Sie, mit diesem Wissen ausge­stattet, in der Lage sind, die Qualität der am Markt angebo­tenen Zerti­fikate einzu­schätzen und die für sich passende Weiter­bildung zu identifizieren.

 

[FGG10] Fahl, W.; Ghadir, P.; Gharbi, M.: Vom Sinn und Unsinn einer Zerti­fi­zierung für Software­ar­chi­tekten – CPSA‑F: Ein gemein­samer Nenner für Software­ar­chi­tekten; Sonder­druck OBJEKT­spektrum 11/2010

[DST] Bei den Prozess­mo­dellen handelt es sich um Domain­stories: www.domainstorytelling.org

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An diesem Artikel beteiligt

Dr. Carola Lilienthal
Organisation
Land
Deutschland

Mahbouba Gharbi
Organisation
Land
Deutschland

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